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Jessica Benjamin, Ph.D., New York, schreibt an Angela Merkel

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachfolgend sowie im Anhang ein
aufrüttelnder Text von Jessica Benjamin, der als offener Brief möglichst in
der ZEIT erscheinen soll. Bitte verbreiten Sie den vorangegangenen, gestern
von mir versandten englischen Text nicht weiter, sondern wenn, dann diesen,
aber bitte vorerst noch nicht an andere Zeitungen, da er hoffentlich in der
ZEIT erscheinen wird! Danke! Mit freundlichen und besorgten Grüssen Ihre
Mechthild Klingenburg-Vogel

Offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!

Als ich im Juni 1967 als Studentin nach Frankfurt/M. kam, war ich
überrascht, dass die ganze Universität voll von Plakaten war, auf denen
stand: „Spende für Israel!“ – Ich selbst hatte zwiespältig auf den
6-Tage-Krieg reagiert: In Amerika als Kind jüdischer Einwanderer
aufgewachsen und Israel durch einen Besuch einige Jahre zuvor tief
verbunden, war ich jedoch als aktive Gegnerin des Vietnam-Krieges und
frühere Bürgerrechts-Aktivistin sehr besorgt über die Besatzung durch Israel
und deren Folgen.
Während meiner Studentenzeit in Frankfurt, aber auch durch einen seit 35
Jahren bestehenden Kontakt mit dem intellektuellen Leben in Deutschland,
habe ich ein tiefes Verständnis vom Ringen der Deutschen meiner Generation
in der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit und mit ihren
Schuldgefühlen wegen des Holocaust. Ich habe erfahren, was sie als kleine
Kinder an Leid erlebten, sowohl durch die direkten Zerstörungen des Krieges
als auch durch die seelischen Wunden, die ihre Eltern in sich trugen. Ich
weiß, was viele meiner jüdischen Mitbürger nicht wissen, wie tief dies die
Deutschen meiner Generation beeinflusst hat. Und als Psychoanalytikerin
hatte ich erst vor kurzem die Gelegenheit, auf der Tagung der Deutschen
Gesellschaft für Psychoanalyse in Hamburg über die Verwirrungen zu sprechen,
die diese Vergangenheit noch immer bewirkt. Und von meinen deutschen
Kollegen wurde die Tatsache, dass ich diese andauernden Verwicklungen
ansprach, mit großer Resonanz und Dankbarkeit aufgenommen.
Im Gefühl der Verbundenheit zu Ihrem Land und im Wissen um die jahrelangen
Anstrengungen, sich um die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit zu bemühen,
appelliere ich an Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, als die Vertreterin der
heutigen Deutschen, diese augenblicklich so entsetzliche Situation zwischen
Juden und Arabern im Mittleren Osten als Chance zu begreifen, etwas Neues
aus der Vergangenheit zu machen. – Während ich schreibe werden unschuldige
Israelis in Haifa, Naharia und Tiberius von Langstreckenraketen getroffen,
die israelischen Streitkräfte bombardieren unschuldige Zivilisten im Libanon
und im Gazastreifen, Hunderttausende unschuldiger Palästinenser sind ohne
Wasser und Elektrizität der Wüstenhitze dieses Sommers ausgeliefert.
Ich glaube, dass man ernsthafter in Betracht ziehen muss, wie die
Vergangenheit in der Gegenwart fortlebt, wenn jetzt Israelis und Araber sich
auf furchtbare Art bombardieren und sich gegenseitig umbringen. Es ist
entscheidend, endlich über die leere Rhetorik von Schuld, Anklage und dem
Recht, zurück zu schlagen, hinweg zu kommen und sich mit den Ursachen für
diesen Zustand auseinander zu setzen, - nicht zuletzt damit, was einige
amerikanische Juden dazu bringt, unsere Regierung noch in ihrem Versagen,
sich einzumischen und Frieden durchzusetzen, zu unterstützen.
Worum ich Sie, Frau Bundeskanzlerin, bitten möchte: Werden Sie Vorreiterin
in Europa für die Übernahme einer neuen Art von Verantwortung für das, was
gerade passiert, - und zwar nicht aufgrund von unschuldiger Neutralität,
sondern vielmehr gerade im vollen Wissen um die Rolle, die Deutschland und
die anderen europäischen Nationen dabei spielten, die ursprünglichen
Bedingungen für Antisemitismus, Kolonialismus, die Umsiedlung der
Palästinenser und den Holocaust. Diese Erfahrungen haben Gefühle von
Ohnmacht, Verletzlichkeit und drohender Katastrophe bei beiden Völkern
erzeugt, sodass Überreaktionen und weitere Eskalationen unausweichlich
wurden. Auf jeder Seite werden deshalb diejenigen, die glauben, dass es
gefährlich sei, dem Anderen zu trauen und die Waffen niederzulegen, immer
wieder die Oberhand gewinnen und bestimmenden Einfluss ausüben.
Dieses Misstrauen hat seine Wurzeln in der Vergangenheit. Wie oft müssen wir
noch miterleben, wie schnell die Begründung für die Besatzungspolitik und
Unnachgiebigkeit in einen Rückgriff auf die Erinnerung des Holocaust
übergeht? Das ist keine reine Manipulation oder Legitimierung. Israels
Unsicherheit und Tendenz zu Unnachgiebigkeit und Eskalation statt zu
territorialem Rückzug und Beruhigung des Konflikts wird im Namen der
Sicherheit immer wieder und beharrlich verteidigt mit Verweis auf die
Vergangenheit des Holocaust.
Viele psychologische Studien beweisen die Tatsache, dass derartige nationale
Traumatisierungen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Es steht außer Zweifel, dass das Trauma der Vernichtung und die frühere
Geschichte des Antisemitismus, die auf beschämende und bedrückende Weise
auch im heutigen Europa und in der islamischen Welt fortdauert, mit
verantwortlich ist, dass Israel den von einer Mehrheit seiner Bürger
ersehnten Frieden, nicht erreichen kann. Der letzte Grund für die
Unsicherheit der Israelis liegt in der Wahrnehmung, dass, wenn ihnen die
Rechtmäßigkeit ihrer Aktionen bezweifelt wird, ihnen damit auch ihr
Existenzrecht verweigert wird. Und im Zusammenhang eines solch tiefen
Traumas von Genozid wissen wir alle, was solch eine Verweigerung bedeutet.
Sie haben das Gefühl, wenn sie sich schützen, werden sie verurteilt, und
wenn sie sich nicht schützen, werden sie umgebracht. Gleichzeitig empfinden
besonders die Palästinenser fatalerweise die israelische Besatzung als
letzte Manifestation des europäischen Imperialismus und als Missachtung
ihrer Unabhängigkeit. Aus diesem Grund ist es für beide Völker notwendig von
Europa die Anerkennung der prinzipiell legitimen Bedürfnisse, die ihnen
vorenthalten wurden, zu bekommen, ( jedoch nicht notwendigerweise der Art
der Verteidigung dieser existentiellen Bedürfnisse).
Sie als Deutsche wissen, dass der gegenwärtige Zustand nicht nur eine
Reaktion auf geopolitische Realitäten darstellt, sondern auch die Folge des
ungelösten Vermächtnisses von Leiden, Erniedrigung und extremer Verfolgung
ist. Und deshalb scheuen viele Deutsche meiner Generation vor einer
Stellungnahme in diesem Konflikt zurück. Ihr öffentliches Schweigen, Frau
Bundeskanzlerin, angesichts der fadenscheinigen Plattitüden von George Bush
über Terrorismus und Selbstverteidigung, Plattitüden, die vielleicht durch
weitere gefährliche Pläne motiviert sind, denen wir Amerikaner hilflos
gegenüberstehen, hilflos, uns aufzulehnen. Plattitüden, die verleugnen, wie
katastrophal die Eskalation des Krieges auf den Libanon in unserer heutigen,
von 1982 so weit unterschiedenen Welt war. Weil das Empfinden von Schuld und
die daraus herrührende De-Legitimation noch immer so stark ist, erscheint es
oft so, als ob Deutschland kein Recht hätte, sich zu äußern, obwohl die
Deutschen nur zu gut wissen, welcher Preis von denen bezahlt werden muss,
die Gewalt und Ressentiments außer Kontrolle geraten lassen.
Aber ich möchte Ihnen zu überlegen geben, ob nicht vielmehr das Gegenteil
zutrifft! Sie können und Sie müssen sich äußern! Ihre Anerkennung der
Fortwirkung der Geschichte des Leidens, wenn das Trauma von einer Generation
zur nächsten weitergegeben wird, kann ein Zeichen für andere sein, wie
notwendig die Anerkennung von Verantwortung und deren öffentliches Benennen
ist, um ein Ende der Gewalt zu ermöglichen, Schuld hat eine Funktion: Sie
ist nicht sinnlos, sie drängt uns zu Wiedergutmachung, zu heilen, eine
wirkliche Veränderung zu schaffen. Als Wesen mit Gewissen, als
moralisch-ethische Wesen können wir die Last von Schuld mit Würde annehmen,
statt voller Scham zu versuchen, uns ihr zu entziehen
Frau Bundeskanzlerin Merkel, als Angehörige der Generation, die alt genug
ist, um die Folgen zu kennen, einer Generation, die die Schuld auf sich
genommen hat, ohne selbst Täter zu sein, warum können Sie nicht im Namen
dieser Deutschen sprechen, und, indem Sie das tun, die anderen Regierenden
in Europa anregen, auch ihre Verantwortung anzuerkennen und den Schutz und
die Sicherheit anzubieten, die sie in jener Vergangenheit nicht gewährt
hatten.
Einst war Europa die Heimstatt der Juden, aber es wurde ihnen zur Hölle.
Jetzt können Sie die Folgen der Taten Ihrer Nationen anerkennen und auf
dieser Grundlage auf der Notwendigkeit einer Intervention bestehen, um die
Sicherheit und das Leben von 2 sehr traumatisierten Völkern zu
gewährleisten. Sie können deren Schutzbedürftigkeit anerkennen, die ihnen in
der Vergangenheit verweigert wurde, und, indem Sie Ihnen diese Anerkennung
gewähren, können Sie sie dringend bitten, damit aufzuhören, sich gegenseitig
die Schuld zuzuweisen.
Heute können Sie Ihre „Spende für Israel“ geben, indem Sie Ihre Anerkennung,
Ihre aufrichtige Reue und Ihren nüchternen moralischen Mut zeigen, indem Sie
anerkennen, wie die Verbrechen der Täter zu Verbrechen der Opfer werden, die
von den Deutschen an die Juden und Araber weitergegeben wurden. – Wie
Eltern, die mit tiefem Bedauern sehen, wie das Kind, das sie missbraucht
haben, nun sein eigenes Kind missbraucht, die die Verantwortung für das
Leid, das sie verursacht haben, übernehmen und ihrer Reue angemessenen
Ausdruck verleihen, um ihr Enkelkind zu retten, so können Sie Ihr Wissen und
Ihre Schuldanerkenntnis als Basis dafür nutzen, für ein Ende der Gewalt
einzutreten und auf einer Intervention zu bestehen.
Dies ist ein ernstgemeinter Vorschlag! Überlegen Sie, Frau Bundeskanzlerin,
was Sie gewinnen können, indem Sie die moralische Verantwortung übernehmen
und die Führer dieser sich bekriegenden Völker bitten, im Namen Ihrer
eigenen deutschen Schuld nicht auf weiterer Gewalt zu bestehen! Rufen Sie
die anderen Regierenden in Europa im Namen Ihrer eigenen Verantwortung dazu
auf, sich Ihrem Angebot einer Intervention anzuschließen, um diese
Feuersbrunst einzudämmen, solange noch Zeit ist! Sie können mit Ihren
europäischen Verbündeten, besonders Großbritannien, das diesen Zustand
mitverursacht hat, gemeinsam Ihre Verantwortung anerkennen und dadurch Ihrer
Besorgnis für die Sicherheit jener Völker eine vertrauenswürdige,
verbindliche Basis verleihen. Indem Sie die Fortdauer des Mordens
verhindern, indem Sie sich gegen die tragisch-ignorante US-Regierung
abgrenzen, die sowohl mit verheerender Gleichgültigkeit gegenüber
menschlichem Leiden als auch mit Blindheit gegenüber realpolitischen Folgen
eine vorsätzliche Politik der Nicht-Einmischung im mittleren Osten
unterstützt hat. Unsere gegenwärtige amerikanische Regierung hat wenig
Respekt vor internationalem Recht und ist sich nicht gewahr, wie Gewalt
weitere Gewalt hervorbringt. Die dringende Notwendigkeit einer Intervention
wurde von der US-Regierung nicht erkannt , sodass es dringend geboten
erscheint, dass Europa einschreitet, um dies zu fordern oder sogar selbst
eine dritte Kraft bildet, die befrieden, schützen und dauerhaften Frieden
ermöglichen kann.
Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie und das deutsche Volk haben die Chance,
etwas unerhört Gutes zu tun, den Schlagabtausch gegenseitiger
Schuldzuweisungen zu ändern, ihn von den beiden kleinen kriegführenden
Parteien in den Zusammenhang zu heben, in den er wirklich gehört, in dem
nämlich alle verantwortlich sind! Nur in diesem größeren Zusammenhang kann
die Sicherheit der beiden verwundbaren und leidenden Beteiligten garantiert
werden. Dann könnten beide Seiten eine internationale Intervention als Hilfe
akzeptieren, ohne das Gefühl zu haben, ihr Recht auf Existenz und
Selbstverteidigung würde ihnen verweigert, wenn sie aufgefordert werden,
Frieden zu schließen.

Jessica Benjamin, Ph.D., New York

Posted by Evelin at August 6, 2006 07:28 AM
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