Freiheit des Vernichtungstäters von Norbert Frei
Die Freiheit des Vernichtungstäters
Harald Welzer über die Bereitschaft zur «Tötungsarbeit»
Von Norbert Frei
18. Oktober 2005, Neue Zürcher Zeitung
Hitler, Himmler und Heydrich - das waren die Namen, die zu hören bekam, wer als junger Deutscher in den fünfziger Jahren nach den Tätern der «Endlösung» fragte. Anfang der sechziger Jahre kam der Name Eichmann hinzu, als Verkörperung einer vermeintlichen «Banalität des Bösen», und bald darauf standen in Frankfurt am Main die «Biedermänner» von Auschwitz vor Gericht, aber ihr Profil blieb verschwommen. Im Grunde galt weiter, worauf die deutsche Nachkriegsgesellschaft sich schon sehr früh verständigt hatte: Die Vernichtung der Juden, unter grösster Geheimhaltung von ein paar «Hauptkriegsverbrechern» befohlen, war die perverse Tat einer kleinen Gruppe von Sadisten, «Asozialen» und Kriminellen. Dieser braune Abschaum der Menschheit hatte weder Namen noch Gesichter, und daran änderte eine um Aufklärung bemühte politische Pädagogik so wenig wie die zeitgeschichtliche Forschung. Die Diskretion des Unkonkreten, die den Modus der Auseinandersetzung mit dem Judenmord jahrzehntelang bestimmte, brach recht eigentlich erst auf, als 1979 ein amerikanisches Fernsehdrama den Begriff «Holocaust» an die Stelle von «Auschwitz» setzte. Fortan ging es weniger um eine anonyme Masse von sechs Millionen Toten als um einzelne Menschen mit individuellen Biografien. Und plötzlich wurden auch die Täter sichtbar.
«Täterforschung»
Die Geschichtswissenschaft reagierte auf diesen veränderten Blick, der nicht zuletzt auf einer veränderten Generationenkonstellation beruhte, in den achtziger Jahren zunächst von ihren kritischen Rändern her. Seitdem ist eine «Täterforschung» entstanden, die das menschenleere Bild der fünfziger Jahre gründlich revidiert hat. Namentlich Christopher Brownings bahnbrechende Studie über die «ganz normalen Männer» des Polizei-Reservebataillons 101, die freilich erst in der Auseinandersetzung mit Daniel Goldhagens These vom «eliminatorischen Antisemitismus» der Deutschen gebührende Aufmerksamkeit fand, trug dazu bei, dass die Vorstellung widerlegt wurde, der Holocaust sei die Tat einer kleinen, charakterlich abnormen Gruppe fanatischer Judenhasser gewesen.
An diesem Punkt setzt nun auch der Sozialpsychologe Harald Welzer an: Was, wenn nicht ein tief verinnerlichter Judenhass, liess Tausende zu «Direkttätern» werden? Wenn die geistige «Normalität» der meisten, die an den oft tagelang sich hinziehenden Erschiessungen von Männern, Frauen und Kindern beteiligt waren, nicht ausser Frage steht - wie erklären wir dann ihr Verhalten? Und nicht zuletzt: Was lässt sich daraus für die Zukunft lernen?
Welzer nutzt, systematischer als seinerzeit der Historiker Browning, die zum Teil schon klassischen Erkenntnisse der soziologischen und sozialpsychologischen Konformitäts- und Gehorsamsforschung (darunter das berühmte Milgram-Experiment und dessen Folgestudien), in die er eine mikrohistorische Rekonstruktion von Tathergängen und Tatdeutungen der einstigen Täter gleichsam einliest. Seine Quellen für diese - nicht leicht zu ertragenden - Beschreibungen sind, wie in der neueren Holocaust-Historiographie, vor allem die im Rahmen von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren entstandenen Aussagen der Täter. Anders als die Geschichtswissenschaft interessiert sich Welzer jedoch weniger für das Spezifische der einzelnen Mordaktionen als vielmehr für die erkennbar wiederkehrenden Muster. Dadurch gelingt es ihm, zu zeigen, dass (auch unterhalb der Fragen nach «Entschlussbildung» und Entscheidungsstrukturen, die die Aufmerksamkeit der Historiker so lange okkupierten) von einem sich Schritt für Schritt entwickelnden Geschehen auszugehen ist. Die Vernichtungsaktionen «hinter der Front» - bei denen Einheiten der Wehrmacht, wie wir heute wissen, die Einsatzgruppen in vielfältiger Weise unterstützten - seien kein «statischer Sachverhalt, sondern ein sich selbst perfektionierender und dynamisierender Prozess» gewesen.
Alles ist möglich
Auch in dem, was Welzer «Tötungsarbeit» nennt, entwickelten sich Routinen. Und diese gelte es genau zu analysieren, wenn man verstehen wolle, wieso «ganz normale Männer» im Sommer des Jahres 1941 anfingen, «unbewaffnete Männer aus ihren Häusern zu holen, diese ihrer Habseligkeiten zu berauben, um sie anschliessend mit einem sich schnell verfeinernden professionellen Raffinement zu erschiessen». Ein Schlüsselbegriff in Welzers Erklärungsschema ist jener der «situativen Dynamik». Die Akteure sind, das hebt er noch stärker hervor als seinerzeit schon Browning, Teil eines blutig-primitiven, zugleich aber auch komplexen Interaktionsgefüges: mit Initiationssituationen, Professionalisierungsschüben und learning by doing. Am Ende solcher Prozesse werde das Morden dann als eine «Arbeit» begriffen, «die erledigt wird wie jede andere auch».
«Alles ist möglich», lautet deshalb Harald Welzers deprimierende Schlussfolgerung am Ende eines Buches, dessen empirischer Kern zwar um den Holocaust kreist, das sich in einem knappen Kapitel aber auch auf das Massaker von My Lai, den Genozid in Rwanda und auf die Massentötungen in Srebrenica bezieht. Die Dichte und die Überzeugungskraft, die Welzers Argumentation mit Blick auf die Holocaust-Täter entfaltet, stellen sich in den drei vergleichend erörterten Fällen allerdings nicht ein - zu schmal ist hier die Quellenlage, zu unklar bleibt das Bedingungsgefüge der Massentötungen, dessen genauer Untersuchung sich im Falle der Einsatzgruppen die wichtigsten Schlussfolgerungen des Autors verdanken.
So dunkel die Diagnose des Sozialpsychologen einerseits ist, so klar distanziert er sich andererseits vom anthropologisierenden Raunen über die böse «Natur» des Menschen und vom ewigen Warnruf vor der «dünnen Decke der Zivilisation». «Gewalt», so Welzer, «ist sozial und historisch spezifisch, und zwar qualitativ wie quantitativ.» Damit aber ist die Frage nach dem ideologischen Referenzrahmen aufgeworfen, innerhalb dessen der Holocaust geschehen konnte. In diesem aus historischer Perspektive interessantesten Zusammenhang gewichtet Welzer, unter ausdrücklicher Berufung auf die Arbeiten Raul Hilbergs, manche bekannten Argumente neu. Vor allem hebt er die Bedeutung der «NS-Moral» hervor, die seit 1933 in Deutschland neue «zeitgenössische normative Standards» geschaffen habe, ohne deren weitgehende gesellschaftliche Übernahme die Ausgrenzung der Juden nicht erklärt werden könne. In dieser Deutung erscheint der Holocaust am Ende auch als Konsequenz einer für die Mehrheit der Deutschen attraktiven Volksgemeinschafts- und Rassenideologie, von der Welzer meint, sie habe in der kurzen Phase eines zunehmend aussichtsloser werdenden Krieges schliesslich sogar das Potenzial besessen, die tradierte bürgerliche Moral zu suspendieren. Immerhin liesse sich das ostentative Bedürfnis nach Bürgerlichkeit und Sekurität, das für die Bundesrepublik der fünfziger Jahre so charakteristisch war, in diesem Sinne als eine sozialpsychische Rekonstruktionsleistung deuten.
Die psychische Eigenschaft der Autonomie, gewonnen durch die Erfahrung von «Bindung und Glück», ist unter uns Menschen zweifellos ein rares Gut. Solange das so bleibt, bleibt Harald Welzer gemäss auch weiterhin «alles möglich». Das aber kann nur heissen: Es kommt darauf an, die humanen Rahmenbedingungen und die demokratischen Strukturen unserer Existenz so zu befestigen, wie es vor 1933 in Deutschland nicht gelungen war.
Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 323 S., Fr. 34.90.
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2005/10/18/fb/articleD5MTG.html
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Posted by Evelin at November 10, 2005 09:53 AM